Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Hans-Günter Richardi, Dachau

Mit den folgenden Ausführungen haben im Oktober 2019 Jürgen und Ingeborg Müller-Hohagen die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Hans-Günter Richardi beantragt. Sie wandten sich dazu an die Bayerische Staatskanzlei zur Weiterleitung an das Bundespräsidialamt. Zugleich kann diese Zusammenstellung auch einen allgemeineren Einblick vermitteln in die Entwicklung der zeitgeschichtlichen Arbeit in Dachau seit Beginn der achtziger Jahre. Natürlich war eine ganze Reihe weiterer Akteure daran beteiligt.

Die Unterzeichner geben diese Anregung zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes für Hans-Günter Richardi vor allem wegen dessen äußerst verdienstvoller Tätigkeit zur Erforschung der NS-Zeitgeschichte in Dachau und darüber hinaus.

Hans-Günter Richardi kam 1969 mit seiner Ehefrau nach Dachau. Er war als Journalist tätig, ab 1971 bis zum Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2002 als Redakteur bei der „Süddeutschen Zeitung“ in München.

Zusätzlich zu seiner Berufsarbeit, wohl aber getragen von seinem entsprechenden Knowhow, erkundete er schon bald sein neues Umfeld in Dachau. Dabei haben ihn Begegnungen mit ehemaligen KZ-Häftlingen in besonderer Weise angesprochen. Er kam mit ihnen zusammen im Rahmen der alljährlichen Gedenkfeiern der Befreiung des KZ Dachau sowie bei zahlreichen anderen Gelegenheiten. Er interessierte sich sehr für ihre Lebenswege vor, während und nach der Haft. Auf dieser Grundlage begann er 1975 mit ausgedehnten Zeitzeugengesprächen. Solche Forschungen im Sinne von oral history waren damals weithin unbekannt. Man kann Hans-Günter Richardi als einen der Pioniere auf diesem Gebiet in Deutschland, speziell in der Erforschung der NS-Geschichte, bezeichnen.

Aus dieser Zeitzeugenarbeit ging 1983 das im Beck Verlag erschienene Buch hervor: „Schule der Gewalt. Das Konzentrationslager Dachau 1933 – 1934“. Es blieb für lange Zeit die einzige Darstellung der Frühgeschichte dieses KZ. Auch der von ihm gewählte Ausdruck „Schule der Gewalt“, für den er am Anfang einige Angriffe erhielt, bewies seine profunde Kenntnis, wurde doch dieses KZ von der nationalsozialistischen Führung tatsächlich als eine Art „Ausbildungsstätte des Terrors“ geführt. So waren alle namhaften späteren KZ-Kommandanten zuvor hier eingesetzt gewesen.

Vor allem aber beschrieb Hans-Günter Richardi in diesem Buch den Alltag der Häftlinge, die unsäglichen Schikanen und Gefahren, denen sie ausgesetzt waren, aber auch ihren großen Willen, diesem Terror, sofern überhaupt möglich, etwas von ihrer Menschlichkeit entgegenzusetzen. Durch seine unermüdliche Arbeit hat er auf diese Weise viele Häftlinge, ermordete wie auch überlebende, aus dem weitgehenden gesellschaftlichen Vergessen herausgeholt.

Was die Stadt Dachau zur damaligen Zeit betraf, so wurden sich verschiedene Bürger allmählich der großen Lücken im öffentlichen Bewusstsein hinsichtlich der NS-Vergangenheit gewahr. 1980 gründete Richardi einen „Arbeitskreis Geschichte“, aus dem 1981 der zeitgeschichtliche Verein „Zum Beispiel Dachau. Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der Dachauer Zeitgeschichte“ hervorging. Hans-Günter Richardi, der zuvor schon intensive Recherchearbeit für den Arbeitskreis geleistet hatte, erklärte sich bereit, den Vorsitz zu übernehmen. Es war dann ganz besonders seinem außerordentlichen Engagement und seinem bereits erworbenen und immer noch erweiterten Wissensfundus zu verdanken, dass dieser Verein in der Folgezeit eine ausgedehnte Tätigkeit entfalten und zu einem zentralen Akteur der zeitgeschichtlichen Arbeit werden konnte. Eine Publikationsreihe „Dachauer Dokumente“ wurde herausgegeben, Ausstellungen wurden präsentiert, Vortragsabende abgehalten, Exkursionen zu anderen Stätten des NS-Terrors unternommen, eine internationale Fachtagung fand statt („Stacheldraht und heile Welt. Historisch-psychologische Studien über Normalität und politischen Terror“, 1995). Der „Förderverein für internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit in Dachau“, der schließlich 1998 die Eröffnung des Jugendgästehauses herbeiführte, nahm 1982 seinen Anfang aus diesem Verein heraus.

Bereits 1979 hatte Hans-Günter Richardi ein Buch über Dachau publiziert: „Dachau. Führer durch die Altstadt, die Künstlerkolonie und die KZ-Gedenkstätte“. Während noch für viele Jahre zahlreiche Bürger und insbesondere die Stadtspitze das „eine“ und das „andere“ Dachau schroff gegenüberstellten, also den alten bayerischen Marktflecken mit seiner späteren Künstlerkolonie als Gegensatz zur „KZ-Stadt“, hat Hans-Günter Richardi bereits 1979 in diesem Buch gezeigt, dass alle diese Seiten nun einmal zu Dachau gehören. Später setzte er dies im erstmals 1998 erschienenen „Dachauer Zeitgeschichtsführer“ fort, der in Zusammenarbeit mit Mitgliedern des Vereins „Zum Beispiel Dachau“ entstand und mittlerweile in dritter Auflage einschließlich englischer Übersetzung vorliegt.

Vor dem Hintergrund der solcherart lange Zeit sehr polarisierten Situation in Dachau hat Hans-Günter Richardi auf diese Weise große Verdienste dafür, dass sich die Stadt mittlerweile als Lernort begreift, zahlreiche entsprechende Aktivitäten unternimmt oder unterstützt und sich das Klima hinsichtlich der so schwierigen Geschichte nachhaltig verändert hat.

Ebenfalls mit großer Tatkraft setzte sich Hans-Günter Richardi ein für den im Rahmen von „Zum Beispiel Dachau“ initiierten Jugendaustausch mit der „Amicale de Dachau“ im südfranzösischen Le Lavandou.

In Zeiten, als die KZ-Gedenkstätte personell noch schwach ausgestattet war, hat Richardi sein profundes Wissen zur Verfügung gestellt für die Ausbildung von GästeführerInnen in der Stadt Dachau und von ReferentInnen in der Gedenkstätte (hier wird aus naheliegenden Gründen das Wort „Führer“ nicht verwendet).

Hans-Günter Richardi hat große Beiträge für den Umgang mit der Zeitgeschichte an Schulen geleistet, z.B. am Taschner-Gymnasium in Dachau. Außerdem hat er das Thema an der Volkshochschule Dachau mit Vorträgen und Führungen als feste Einrichtung installiert.

Viele Jahre war Hans-Günter Richardi Mitglied im Präsidium der Lagergemeinschaft Dachau (von deutschen ehemaligen Dachau-Häftlingen gegründet) und erhielt dort die Verdienstmedaille des Internationalen Dachau-Komitee (CID).

Es sei an dieser Stelle noch vermerkt, dass Richardi auch über die Dachau-Themen hinaus verschiedene Publikationen zur NS-Zeitgeschichte vorgelegt hat, die bundesweit großes Echo fanden (siehe beigefügtes Schriftenverzeichnis).

Es muss hervorgehoben werden, dass er vor einiger Zeit sein umfangreiches Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau übergeben und damit der Öffentlichkeit auf Dauer zugänglich gemacht hat.

Durch die Beschäftigung mit dem KZ Dachau stieß Hans-Günter Richardi auf Pläne der NS-Führung zum Ausbau einer Alpenfestung und dann auf dieser Grundlage auf einen Geiseltransport, zu dem noch im April 1945 prominente Häftlinge aus verschiedenen Konzentrationslagern im KZ Dachau zusammengezogen und zunächst nach Innsbruck und dann nach Südtirol verbracht wurden, um bei Verhandlungen mit den Alliierten, die Himmler noch plante, als Faustpfand zu dienen. Es gelang Richardi, dieses auch in Südtirol schon lange vergessene Drama wieder ans Licht zu holen, was nicht zuletzt wegen der Prominenz der betroffenen Häftlinge von größter Bedeutung ist (insgesamt 139, darunter Martin Niemöller, Léon Blum, der ehemalige französische Ministerpräsident, Josef Müller, späterer Mitbegründer der CSU, „Sippenhäftlinge“ von Beteiligten am Umsturzversuch vom 20. 7. 1944…). Hans-Günter Richardi publizierte darüber, erarbeitete eine Ausstellung, die mittlerweile vielerorts gezeigt wurde („Rückkehr ins Leben“), und gründete das Zeitgeschichtsarchiv Pragser Wildsee (Ort der schließlichen Befreiung). Der ZDF-Film „Wir, Geiseln der SS“ von 2015 basiert auf seinen Forschungen.

Abschließend sei betont, dass Hans-Günter Richardi in äußerst bemerkenswerter Weise immer bereit war, seine Erfahrungen und sein Wissen selbstlos anderen zur Verfügung zu stellen. Dabei war es sein allergrößtes Anliegen, der von der SS betriebenen völligen Anonymisierung und Entmenschlichung der ihr ausgelieferten Häftlinge mit allen Kräften entgegenzuwirken und deren Persönlichkeit, Individualität und Einsatz für andere herauszuarbeiten.

Hans-Günter Richardi erfuhr für seine zeitgeschichtliche Arbeit bereits Ehrungen in Frankreich und Italien. Angesichts seines weit über Dachau hinaus, also auch bundesweit außerordentlich bedeutsamen Wirkens sehen die Unterzeichner die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes als sehr angebracht.

Dr. Jürgen und Ingeborg Müller-Hohagen